von Thomas Aichner
30. Mai 2017Win-win-win-Situation für Wirtschaft, Gesellschaft und Individuum
Die Frage, ob Menschen mit Behinderung als Mitarbeiter beschäftigt werden sollten, kann aus drei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden: einer moralischen, einer rechtlichen und einer wirtschaftlichen. Aus moralischer Sicht kann die Frage ganz klar mit „ja“ beantwortet werden. Respekt und Nächstenliebe gehören schließlich zu den wichtigsten kulturellen und religiösen Werten unserer Gesellschaft. Stellt sich ein Unternehmen dieser moralischen Verpflichtung nicht, leidet das Image des Unternehmens und es können gesellschaftliche Konsequenzen drohen. Auch die rechtliche Situation in Italien ist relativ einfach. Betriebe mit 15 bis 35 Mitarbeitern müssen eine geistig oder körperlich beeinträchtigte Person beschäftigen. Bei größeren Firmen mit 36 bis 50 Mitarbeitern steigt diese Zahl auf zwei und bei mehr als 51 Mitarbeitern auf 7 % aller Beschäftigten. Hält sich ein Unternehmen nicht an diese Quotenregelung, werden Strafgelder fällig.
Dieser Artikel geht auf den dritten – und für viele Unternehmen wichtigsten – Aspekt ein: den wirtschaftlichen. Hier stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein körperlich oder geistig beeinträchtigter Mitarbeiter genauso gute oder gar bessere Leistungen erzielen kann als ein nicht-beeinträchtigter Kollege. Nachfolgend wird anhand mehrerer Beispiele verdeutlicht, dass auch wirtschaftliche Gründe für die Einstellung beeinträchtigter Mitarbeiter sprechen können.
Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen mit Behinderung überdurchschnittlich stark motiviert sind. Das liegt zum einen daran, dass es für sie bedeutend schwerer ist, überhaupt eine Arbeitsstelle zu bekommen. Andererseits beruht die höhere Motivation auch darauf, dass ihnen grundsätzlich weniger zugetraut wird, z.B. von Arbeitskollegen. Eine hohe Motivation führt zu besserer Qualität, einem freundlicheren Umgang mit Kunden, höherer Loyalität und konstanter Leistung. 2007 hat das amerikanische Unternehmen Walgreens ein Verteilerzentrum eröffnet, in dem mehr als 30 % der 800 Mitarbeiter eine Behinderung hatten. Das Ergebnis war überraschend, denn das Zentrum arbeitete um 20 % effizienter als vergleichbare Einrichtungen ohne Mitarbeiter mit Behinderungen.
Häufig reicht es aus, wenn das Unternehmen kleine, kostenlose oder günstige Änderungen am Arbeitsplatz oder Anpassungen am Produktionsprozess vornimmt, damit die volle Leistungsfähigkeit beeinträchtigter Mitarbeiter genutzt werden kann. Das geschieht zum Beispiel, indem etwas mehr Platz für einen Rollstuhlfahrer geschaffen oder ein Arbeitsschritt in zwei einfachere Prozesse aufgeteilt wird. Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung arbeiten oft konzentrierter und genauer, weshalb sie sich wiederholende Aufgaben besonders gut ausführen.
Ein Unternehmen, das auf diese Stärke setzt, ist die Asperger Informatik AG. Das Schweizer Unternehmen beschäftigt vorzugsweise Menschen mit dem Asperger-Syndrom, einer leichten Form des Autismus. Asperger-Betroffene sind häufig hochbegabt, verfügen über eine schnelle Auffassungsgabe, hohe Detailgenauigkeit, extreme Konzentrationsfähigkeit, Hartnäckigkeit und Ausdauer.Für das Unternehmen, das in der Informatik-Branche arbeitet, sind das ideale Voraussetzungen. Um diese besonderen Fähigkeiten nutzen zu können, schafft die Firma für ihre Mitarbeiter eine reizarme Umgebung, minimiert Stress und Druck, findet geeignete Aufgabenbereiche und plant die Arbeitsprozesse möglichst genau.
Auch schwerbehinderte Personen tragen zum wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens bei, wenn sie richtig eingesetzt werden. Insbesondere computergestützte Tätigkeiten können auch von Blinden oder Menschen mit stark ausgeprägten motorischen Behinderungen ausgeübt werden. Da sie in der Regel auch im privaten Alltag von technischen Produkten abhängig sind, besteht häufig ein verstärktes Interesse und ein überdurchschnittlich großes Verständnis für Technik und Informatik. Die immer öfter vorhandene Möglichkeit zur Heimarbeit erleichtert die Integration dieser Menschen in die Arbeitswelt zusätzlich.
Warum sind trotzdem noch immer so viele Menschen mit Behinderung erwerbslos, obwohl sie im arbeitsfähigen Alter sind? Das liegt unter anderem an den viele Vorurteile, die häufig auf Unwissenheit beruhen und zur Diskriminierung von Menschen mit Behinderung führen. Sollten mehr Unternehmen das Potential dieser Arbeitskräfte erkennen und es schaffen, die richtige Person für die passende Stelle zu verpflichten, könnten alle davon profitieren. Die Asperger Informatik AG nennt es eine „Win-win-win-Situation für Wirtschaft, Gesellschaft und Individuum.“
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