Macht uns Gott noch unruhig?

von ANMIC

15. April 2020

Gastbeitrag von Pater Philipp Meyer

Vieles am Erscheinungsbild der Kirche beunruhigt Pater Philipp Meyer OSB, Mönch der Benediktinerabtei Maria Laach. Steht Gott wirklich im Mittelpunkt? Für Pater Philipp übt Gott eine Faszination aus, die alles andere in den Schatten stellt. Das neue Buch des jungen Mönches ist fromm und unbequem zugleich, locker geschrieben und trotzdem tiefschürfend. Dem eigentlichen Text geht ein Vorwort des Kölner Erzbischofs Rainer Maria Kardinal Woelki voran.

Es ist ein komisches Gefühl, wenn man in diesen Tagen und Wochen einmal versucht, zurückzudenken. Nicht um einige Jahre, sondern nur um einige Monate – mir gelingt es kaum. Jedenfalls nicht ohne das beklemmende Gefühl, dass eine irgendwie geartete „normale“ Zeit Lichtjahre weit weg zu sein scheint.
Mit der Corona-Krise, die seit März 2020 freilich nicht nur Deutschland fest in ihrem bedrohlichen Griff hat. lassen sich m.E. Probleme vergleichen, die signifikant unseren Glauben, die Kirche und unsere Form der Verkündigung betreffen, an denen sich also par excellence die tiefe Glaubenskrise, in der sich die Kirche befindet, ableiten lässt.


Politische Kirchenkrise

Die Kirche, so heißt es vielfach, sei zu politisch geworden, sie wird häufiger denn je als eine parteiähnliche Organisation wahrgenommen. Auch das Verhalten und Auftreten kirchlicher Funktionäre (um in der politischen Sprache zu bleiben), befeuert diesen Eindruck. Dies führt zu einer starken Ähnlichkeit der Spielfelder, auf denen sich die Player in Politik und Kirche bewegen; oft geht es deshalb auch nach denselben Regeln zu. Wie sich also die Krise der Demokratie darstellt, stellt sich m.E. auch die Krise der Kirche dar. Diese ist, davon bin ich zutiefst überzeugt, zuerst eine Krise des Glaubens und Vertrauens und nicht der Struktur, wie auch in der Politik.
Aber ebenso wie für die Demokratie gilt auch für unseren Glauben, dass dieser eine hochkomplexe Angelegenheit ist. Sowohl Rationalität als auch Emotionalität spielen eine wichtige Rolle und sind gewichtige Größenordnungen auch in Glaubensfragen. Zuerst einmal, und darauf kommt es mir an, glauben wir als Christinnen und Christen, als Katholiken nicht an eine Philosophie, die zuerst auf den klugen Gedanken von Philosophen beruht. Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki schreibt in seinem Vorwort zu meinem Buch „Gott macht unruhig“: „Wir begegnen in P. Philipps Zeilen (um es mit Blaise Pascals Mémorial zu formulieren) nicht in erster Linie dem „Gott der Philosophen und Gelehrten“, sondern dem „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs“, der weniger Gegenstand geruhsamer Spekulationen ist als „Feuer“, das brennt und uns entflammen will.“
Ja, unser Glaube ist zuerst personal, weil eine konkrete Person im Vordergrund steht, eine Person, die Gott ist, Gott der Sohn, und die Menschen an sich zieht und in seine Nachfolge beruft, damit sich zu allen Zeiten das Evangelium ausbreiten kann – was bis heute gilt.
Ein Blick in die Schlagzeilen, die sich um Kirche drehen, auch in katholischen Medien, reicht, um zu erkennen, dass oft das Unwesentliche mit dem Wesentlichen vertauscht wird. Ich sage es klarer: Nur, weil viele die Fragen nach der Ordination der Frau, nach einem ökumenischen Eucharistieverständnis, der Weihe für verheiratete Männer oder nach dem Zölibat beschäftigen, heißt das noch lange nicht, dass dies auch die glaubensrelevanten Fragen sind. Denn im Angesicht der Tatsache, dass auch unter Katholiken, die von sich sagen, sie seien gläubig, bspw. der christliche Urglaube an die Auferstehung der Toten, der innerste Kern des Glaubens also, oftmals abgelöst scheint von den abstrusesten esoterischen Vorstellungen von Wiedergeburt und Reinkarnation, kann ich nicht erkennen, dass die Frage nach dem Zölibat für den Glauben der Kirche die entscheidende ist. Keinesfalls geht es mir darum, Diskussionen abzuwürgen. Stellen wir uns aber jemanden vor, der sich interessiert und bei Google „katholische Kirche“ eingibt oder die Zeitung aufschlägt: Dort wird er nicht zuerst mit den wesentlichen Inhalten des Glaubens konfrontiert, sondern mit Kampf, Streit oder medialen Aufrufen zum Aufstand in der Kirche. Ist das die Botschaft, die wir vermitteln wollen, die wir zu vermitteln haben?

Im Prolog zu meinem Buch schreibe ich: „Ich bin beunruhigt. Ja, so kann man es ausdrücken. Vieles in der heutigen Zeit, in der aktuellen Lage unserer Gesellschaft und vor allem auch der Kirche beunruhigt mich. Und ich glaube, damit stehe ich nicht allein da. Ich bin beunruhigt über das, was im Fokus steht und was aus dem Fokus herausfällt. Was Schlagzeilen macht und was in der Öffentlichkeit keine Rolle spielt. Vieles in der heutigen Zeit beunruhigt mich – und doch bin ich kein Reaktionär. Bin ich konservativ? Bin ich progressiv? Manchmal neige ich eher zu der einen, dann wieder zu der anderen Seite, vor allem aber ärgert mich jeweils die eine oder die andere Seite durch radikale Meinungen oder durch polarisierende Stellungnahmen und Personen. Und dann erwische ich mich bei der Frage, was eigentlich bei mir selbst im Fokus steht, in meinem Leben, in meinem Glaubensleben. Mir fällt ein Wort des heiligen Benedikt ein, nach dessen Ordensregel ich lebe. Er spricht davon, dass man, wenn ein junger Mann ins Kloster eintreten möchte, zuerst prüfen soll, ob er wirklich Gott sucht.“


Reformabbruch

Mit diesem Wort des heiligen Benedikt möchte ich den Blick weiten auf das innere Problem unserer satten und müden Kirche besonders in der westlichen Welt, welches gerade in der derzeit wütenden Coronakrise besonders eklatant zutage tritt.

Mitte des 20. Jahrhunderts, insbesondere ab der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, wurde sich in der Kirche sukzessive von einer sog. Volksfrömmigkeit verabschiedet, nicht selten gefördert und befeuert durch die wissenschaftliche Theologie und viele Geistliche. Dies ist umso bemerkenswerter, wehten doch die Fahnen am Beginn des Jahrhunderts ganz im Zeichen einer liturgischen Erneuerung, gespeist vom tiefen Wunsch vor allem der Jugend, die Geheimnisse des Glaubens, die Sprache der Kirche wieder begreifbar und fruchtbar zu machen.
Mein Heimatkloster, die Benediktinerabtei Maria Laach, war sicherlich ein Leuchtturm in dieser wirklich katholischen, umfassenden Bewegung. Doch auch hier stagnierte die katechetische und pastorale Fruchtbarmachung nach dem Konzil total, von den hoffnungsvollen Aufbrüchen, den theologischen Bemühungen ist nicht viel übriggeblieben. Dies verwundert umso mehr, wo doch das Konzil endlich diese vielen großartigen Aufbrüche nun kirchenamtlich aufgenommen hat. Doch die Umsetzung so vieler richtungsweisender Anstöße des Konzils hat die nachkonziliare Kirche vielfach leider nicht mehr aufgenommen, um diese für die breite Basis der Gläubigen umzusetzen. Hat man denn ernsthaft geglaubt, dass bspw. die theologische Rede von der Liturgie als „Quelle und Höhepunkt“ der Kirche (Vgl. SC 10) für die Gläubigen (und auch die Geistlichkeit) selbsterklärend ist, nachdem das Gottesvolk über Jahrhunderte theologisch gleichsam unmündig war?
Im Ergebnis führte die nachkonziliare Zeit jedenfalls dahin, dass die Eucharistiefeier zur mehr oder minder einzigen Ausdrucksform des kirchlichen Lebens wurde. Andachten, Prozessionen, Hausgottesdienste in der Familie oder Wallfahrten wurden marginalisiert, bisweilen stigmatisiert und sind bis heute in der Breite kaum noch vorhanden. Freilich, die Eucharistiefeier ist und bleibt die Höchstform des Gottesdienstes der Kirche und sie muss es auch bleiben, denn die Kirche konstituiert sich aus der Feier der Eucharistie. Doch das jahre- und jahrzehntelange Wegbrechen der Teilnehmerzahlen an unseren Eucharistiefeiern offenbarten einen wunden Punkt, dass nämlich für viele, auch viele, die sich selbst als gläubig bezeichnen würden, diese zentrale Feier der Kirche eben weder eine Quelle noch ein Höhepunkt in ihrem Leben ist.


Not lehrt beten?

Wie schlimm dieses Faktum ist, offenbart sich in besonderer Weise jetzt in der Zeit der Coronakrise. Früher sagte man, dass Not beten lehrt. Was aber, wenn die Menschen gar nicht mehr selbst, also außerhalb des kirchlichen Gemeinschaftsrahmens, beten können? Diese Annahme erschließt sich aus vielen persönlichen Seelsorgegesprächen, aber auch aus manch großflächiger Studie, die in den letzten Jahren gemacht wurde. Nun haben also in dieser Krise die Menschen vermehrt Sehnsucht nach Gott, verspüren einen tiefen Drang nach Antworten auf ihre Fragen in Angst, Not, Einsamkeit und Trauer, brauchen seelsorglichen und sakramentalen Zuspruch. Und ausgerechnet jetzt dürfen keine Gottesdienste mehr stattfinden.
Die Kirche glänzt nicht nur in dieser Zeit der Not. Sehr schnell war man bereit, dem Aufruf der Regierungen zu folgen. Bisweilen scheint sie sich auch zurückzuziehen und Menschen fühlen sich alleingelassen. Hat man den zweifelsfrei wichtigen zivilen Gehorsam vielleicht etwas voreilig und pedantisch umgesetzt? In unserem Bistum Trier wurden beispielsweise vor den Kirchen sofort Plakate aufgehängt, die ein Ausrufezeichen zeigen und den Satz: „Ab sofort finden keine Gottesdienste mehr statt!“ Sähe empathische und menschennahe Seelsorge sieht anders aus?
In einem Zeitungsartikel las ich einen interessanten Vergleich: Der Bäcker backt das tägliche Brot, und weil dem so ist, dürfen Bäckereien offenhaben. Aber haben wir als Kirche nicht auch ein „tägliches Brot“ denen zu geben, zu denen wir vom Herrn gesandt sind? Ausgerechnet jetzt ist die Kirche für die Menschen nicht wie üblich da, im Alltag, als Anlaufstelle. Natürlich müssen die unzähligen medialen Angebote wertgeschätzt werden, die nun tagtäglich durch die sozialen Netzwerke gehen – fast scheint einem, die Angebote seien jetzt viel mehr vorhanden als im normalen Alltag der Kirche… Doch all diese guten Initiativen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir als Kirche das Beten als persönliche Kraftquelle irgendwie auch verlernt haben.
Man kann davon ausgehen, dass die Jünger Jesu mehr oder weniger fromme Juden waren, bewandert im Glauben ihres Volkes. Und doch forderten sie von ihrem Meister: „Herr, lehre uns beten“ (Lk 1,11). Daraus können wir schließen, dass auch damals schon der Gottesdienst keine Gebetsschule war, sondern das Gebet als Kommunikationsform gewissermaßen voraussetzte. Umgekehrt heißt das doch: Was müsste eigentlich unserer zentralen Gottesdienstform, der Eucharistiefeier, vorgeschaltet sein, um den Menschen zu einem guten Gebetsleben zu verhelfen? Was würde helfen zum wirklichen und konkreten Aufbau eines Beziehungsgeschehens zwischen dem einzelnen Gläubigen und Jesus Christus, dessen Höchstform dann ihren Ausdruck in der Feier der Eucharistie finden kann? Wie können wir den Menschen klarmachen, dass die Unruhe, die uns umtreibt, nur und einzig wirklich von Gott gestillt werden kann, dass nur sein Frieden uns wirklich befriedet, zum Frieden mit uns und der Welt führt?
Nun gibt es – Gott sei Dank – immer mehr Initiativen, die diese Thematik in den Vordergrund rücken. Doch die Aufgabe für die Zeit nach Corona muss klar sein: genau da anzuknüpfen, wo die Kirche nach dem Konzil den Faden verloren hat. Denn inzwischen haben wir tausende und abertausende Gläubige verloren. Und ich fürchte, dass das auch nach Corona so weitergehen wird, wenn nicht wenige Menschen feststellen könnten, dass ihnen ohne den routinemäßigen sonntäglichen Gottesdienstbesuch, der ja derzeit nicht möglich ist, eigentlich gar nicht so viel gefehlt hat.


Bei mir geht es los

Wichtig ist, dass dieser Weg der Erneuerung des Glaubens nur authentisch auch im Hinblick auf andere Menschen sein kann, wenn er wirklich bei mir persönlich seinen Anfang nimmt und den eigenen (Glaubens)weg fest im Blick hat. Eine christliche Weisheit lehrt mit einem Stoßgebet: „Herr, ändere deine Kirche und fang bei mir an.“ Alle Veränderung, alle Reform geht immer, will sie nicht zur Diktatur werden, bei mir persönlich los. Im christlichen Kontext also braucht es zuerst die Vertiefung in Jesus Christus, meine persönliche Vertiefung. Wenn ich in ihm verwurzelt bin, kann ich missionarisch werden, weil ich begeistern kann, kann ich zum Beziehungshelfer für andere Menschen werden, die, gerade in Zeiten wirklicher Not, ihre Halt- und Richtungslosigkeit schmerzlich spüren. Und ist das nicht die zentrale Aufgabe der Kirche? Hat nicht gerade die Kirche von ihrem Herrn und von seinem Evangelium her die besten Hilfsmittel und vor allem den dezidierten Auftrag, den Menschen zu helfen, ihnen den Heiland, den Erlöser, der heilt, näher zu bringen?


Zukunft

Fast prophetisch tönen heute die Worte Papst Benedikts XVI. an, die er 2011 im Freiburger Konzerthaus über die Entweltlichung der Kirche sprach: „Um so mehr ist es wieder an der Zeit, die wahre Entweltlichung zu finden, die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen. Das heißt natürlich nicht, sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern das Gegenteil. Eine vom Weltlichen entlastete Kirche vermag gerade auch im sozial-karitativen Bereich den Menschen, den Leidenden wie ihren Helfern, die besondere Lebenskraft des christlichen Glaubens zu vermitteln. „Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst“ (Enzyklika Deus caritas est, 25). Allerdings haben sich auch die karitativen Werke der Kirche immer neu dem Anspruch einer angemessenen Entweltlichung zu stellen, sollen ihr nicht angesichts der zunehmenden Entkirchlichung ihre Wurzeln vertrocknen. Nur die tiefe Beziehung zu Gott ermöglicht eine vollwertige Zuwendung zum Mitmenschen, so wie ohne Zuwendung zum Nächsten die Beziehung zu Gott verkümmert.“ (Ansprache von Papst Benedikt XVI. im Freiburger Konzerthaus am 25. September 2011)
Die Kirche hat eben etwas anderes, etwas mehr zu geben, als die Politik oder eine Nichtregierungsorganisation. Dies verschwimmt aber, wenn sie ein Bild von sich vermittelt, welches von einer Partei nicht mehr zu unterscheiden ist, wenn in ihr die Debatten geführt werden, als ob ihre ureigenen Inhalte verhandelbar und demokratisch zu beschließen oder abzuschaffen sind. Die Kirche muss wieder Anwältin des Evangeliums werden! Umso mehr sind die vielen guten Initiativen hervorzuheben, die sich wieder dem Wort Gottes, dem Verständnis der Eucharistie, widmen, die die Mission und die Evangelisation in den Mittelpunkt stellen und vor allem immer und immer wieder die eigene Bekehrung zum Herrn. Denn wie will ich andere für etwas entzünden, für das ich nicht selbst Feuer und Flamme bin?

Die Corona-Pandemie hat die Welt überrascht wie ein heftiger Sturm. Papst Franziskus brachte dieses aus der Bibel abgeleitete Bild bei der beeindruckenden Feier des Segens Urbi et Orbi auf dem menschenleeren Petersplatz am 27. März 2020. „Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. Er macht sichtbar, wie wir die Dinge vernachlässigt und aufgegeben haben, die unser Leben und unsere Gemeinschaft nähren, erhalten und stark machen. Der Sturm entlarvt all unsere Vorhaben, was die Seele unserer Völker ernährt hat, „wegzupacken“ und zu vergessen; all die Betäubungsversuche mit scheinbar „heilbringenden“ Angewohnheiten, die jedoch nicht in der Lage sind, sich auf unsere Wurzeln zu berufen und die Erinnerung unserer älteren Generation wachzurufen, und uns so der Immunität berauben, die notwendig ist, um den Schwierigkeiten zu trotzen. Mit dem Sturm sind auch die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser „Ego“ in ständiger Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wurde wieder einmal jene (gesegnete) gemeinsame Zugehörigkeit offenbar, der wir uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und Schwestern sind.“ (Ansprache von Papst Franziskus beim Segen „Urbi et Orbi“ am 27. März 2020)

Ja, diese Coronakrise drückt für die ganze Welt irgendwie die Reset-Taste und stellt alles auf Null. Kann dieses resetten für uns zu einem neuen Anfang werden, zu einem zarten und kleinen Anfang, der die Kirche dahin führt, wo Jesus Christus ist. Er wird sie dahin führen, wo sie Kraft und Hoffnung schöpfen kann, zur Quelle ihres inneren Lebens. Und nur von dieser Quelle aus kann sie den Weg zu den Menschen finden und zu ihren Freuden und Hoffnungen, zu Ihren Ängsten und zu ihrer Trauer Zugang finden und sie glaubwürdig zu ihren Freuden und Hoffnungen und Ängsten und Traurigkeiten machen, wie der einleitende Satz der Pastoralkonstitution des Konzils Gaudium et spes sie auffordert. Dieses berühmte und wegweisende Wort ist zutiefst geprägt vom Evangelium her, denn dieser Weg zu den existenziellen Rändern ist immer eine Bekehrung, weg von den eigenen, auch den kirchlichen „Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten“, wie Papst Franziskus sagt, hin zum Wesentlichen. Aber dieser Weg wird scheitern, wenn sich die Kirche, wenn wir uns nicht klarwerden, wo die Kraftquelle für diese Umkehr liegt, nämlich in der persönlichen Beziehung zum Herrn. Auch dies hat Jesus uns, seiner Kirche, vorgelebt, nämlich die Mitte seines Glaubens und seines daraus resultierenden Wirkens nie zu verlassen: seine Beziehung zum Vater. Ob in aller Frühe, bevor Jesus mit seinen Jüngern loszog zu den Menschen (vgl. Mk 1,35), ob am Abend und in der Nacht, nach einem kräftezehrenden Tag (vgl. Mt 14,23): Jesus war mit dem Vater in inniger Beziehung im Gebet verbunden und strahlte dies auch aus, denn die Jünger baten ihn: „Herr, zeig uns den Vater, das genügt uns“ (Joh 14,8). Sie hätten auch sagen können: Zeig uns die Quelle deiner Überzeugungskraft und deines Auftrags.

Was die Zukunft nach der Coronakrise bringen wird, vermag wohl keiner zu sagen. Ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben, dass die Unruhe dieser beunruhigenden Zeit uns, die Kirche, nicht wieder in einen Dämmerschlaf des Selbstverständlichen verfallen lässt. Alles, was in Zukunft an Reformen und Strukturmaßnahmen nötig sein wird, sollte passieren, um den Herrn wieder in die Mitte der Kirche zu rücken und um sich allein von seinem Handeln inspirieren und beflügeln zu lassen für den Dienst am Menschen, im Gebet, in der Pastoral, in all ihrem Handeln. Der Ballast, der abgeworfen werden muss, wird Platz schaffen für Neues und die Sehnsucht der Kirche freilegen, wirklich relevant, weil menschennah, heilend, befreiend und missionarisch zu sein. Dann kann die Kirche auch wieder Antworten geben auf die Frage, was die Quelle des Lebens ist und wie ich sie finden kann?
„Kann ich selbst zu einem Hinweisschild werden, das anderen Menschen die Richtung zur wahren Quelle zeigt, die Jesus Christus ist? Ich finde es großartig, dass Jesus uns nicht nur einlädt, zu ihm zu kommen, sondern uns gleichzeitig auch zutraut, für andere zur Quelle zu werden und zu Wegweisern, um zu ihm zu finden. Wir sind alle gemeinsam unterwegs und können uns auch gegenseitig stützen und begleiten auf dem Weg mit dem Herrn.“ (Philipp Meyer OSB, Gott macht unruhig. Freiburg 2020, 18)
Es muss nicht immer Krisenzeit sein, aber Krisen wird es immer geben, im Großen wie im Kleinen. Die Kirche hat Antworten, die in Not helfen können. Doch sie muss diese Antworten auch geben, hörbar, verstehbar, wie Jesus es zu seiner Zeit getan hat, sie darf sich nicht zurückziehen vom Menschen. Dann wird auch wieder zusammenwachsen, was zusammengehört, dann wird die Kirche respektiert und geachtet sein, nach so vielen erschütternden Skandalen der jüngeren Vergangenheit, weil sie durch ihre Verkündigung beweist, dass es nicht um sie selbst geht, sondern um den, auf den sie glaubwürdig verweist. Für uns wie für die Kirche gilt: „Das eigene Kreuz anzunehmen bedeutet, den Mut zu finden, alle Widrigkeiten der Gegenwart anzunehmen und für einen Augenblick unser Lechzen nach Allmacht und Besitz aufzugeben, um der Kreativität Raum zu geben, die nur der Heilige Geist zu wecken vermag. Es bedeutet, den Mut zu finden, Räume zu öffnen, in denen sich alle berufen fühlen, und neue Formen der Gastfreundschaft, Brüderlichkeit und Solidarität zuzulassen. Durch sein Kreuz sind wir gerettet, damit wir die Hoffnung annehmen und zulassen, dass sie alle möglichen Maßnahmen und Wege stärkt und unterstützt, die uns helfen können, uns selbst und andere zu beschützen. Den Herrn umarmen, um die Hoffnung zu umarmen – das ist die Stärke des Glaubens, der uns von der Angst befreit und uns Hoffnung gibt.“ (Ansprache von Papst Franziskus beim Segen Urbi et Orbi am 27. März 2020)

 

Pater Philipp Meyer OSB, geboren 1981 in Braunschweig, war von früher Kindheit an Mitglied der Braunschweiger Domsingschule. Von 2002-2006 studierte er in Heidelberg und Köln Kirchenmusik mit den Studienschwerpunkten Chorleitung und Gregorianik. 2006 trat er in die Benediktinerabtei Maria Laach ein, legte im Oktober 2011 die Profess ab, studierte von 2008 bis 2013 in Salzburg und Rom Theologie und wurde 2015 zum Priester geweiht. Er ist Chordirektor der von ihm gegründeten Cappella Lacensis und im Kloster u.a. für die Jugend- und Berufungspastoral zuständig. Seit 2017 betet er täglich für das Internetportal katholisch.de das „Abendgebet aus Maria Laach“; im Februar 2020 erschien sein Buch „Gott macht unruhig“ im Herder-Verlag.

 

Bild: © Pater Philipp Meyer

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